Moralisches Dauerstreaming bildet keine Wurzeln … zwischen Schuld, Dissonanz, Erschöpfung und Hilflosigkeit
Ein Zwiegespräch über Berührung, Maß und Verantwortung in einer überinformierten Welt
Einleitung
Lange Zeit bin ich mit einer bestimmten inneren Stimme durchs Leben gegangen – wach, empört, leidenschaftlich.
Diese Stimme, die ich in diesem Text „die Entflammte“ nenne, hat mich angetrieben, mich durch viele Wahrheiten gebohrt, mich wachgehalten in einer Welt voller Widersprüche, Ungerechtigkeit und Lüge.
Sie hat mir geholfen, nicht wegzuschauen, sondern aufklärende und engagierte Texte in die Welt zu bringen. Sie hat mich angehalten „die Menschen wach zu rütteln.“
Doch mit der Zeit wurde mir etwas anderes deutlich:
Dauerempörung bildet keine Wurzeln – sie erschöpft.
Ist Dichtmachen wirklich Ignoranz? Oder eher ein Akt des Selbstschutzes?
Ich spüre, dass eine neue Stimme in mir Raum verlangt – sanfter, prüfender, und vielleicht weiser.
Dieser Text gibt beiden Stimmen Ausdruck. Und er endet mit einer Entscheidung.
Einer, die ich heute treffe.
Stimme 1 – Die Entflammte
Manchmal frage ich mich, was eigentlich mit uns passiert ist.
Wie konnten wir so stumpf werden?
Wir wissen von Kindermissbrauch in höchsten Kreisen, von Lügen, Kriegen, kartellgesteuerten Strukturen – und wir zucken nicht einmal mehr.
Wir hören, sehen, wissen – und tun: nichts.
Der Mensch ist abgestumpft wie eine Mücke auf Gras. Die Aufmerksamkeit flüchtig, das Mitgefühl selektiv, die Empörung abgeflacht.
Und dann dieser Konsens des "Ich kann eh nichts tun" – das ist gefährlich.
Es braucht ein Feuer. Eine Erschütterung. Etwas, das uns aufrüttelt.
Denn wer in der Bequemlichkeit versinkt, hat sich von der Wahrheit entfernt.
Stimme 2 – Die Maßvolle
Und doch frage ich: Ist das wirklich der Weg?
Muss ich jede Grausamkeit kennen, jede Dunkelheit in mir aufnehmen, um ein verantwortlicher Mensch zu sein?
Ich erinnere mich an einen Stamm im Amazonas. Dort gilt nur als wahr, was selbst erlebt oder direkt bezeugt wurde.
Das hat Tiefe. Echtheit. Klarheit.
Unsere Welt ist anders: entgrenzt, überfüllt, durchdrungen von einer Dauer-Information, die oft interessengelenkt ist.
Nachrichten sind selten neutral – sie sind Geschichten, gerahmt, zugespitzt, oft manipulativ.
Wenn ich mich allem öffne, ohne Differenzierung, werde ich nicht wacher – ich werde erschöpft.
Stimme 1
Aber ist Rückzug nicht auch ein Deckmantel?
Ist das Nichtwissenwollen nicht Teil des Problems?
Wenn ich mich abwende, um mich selbst zu schützen, dann schütze ich vielleicht auch ein System, das auf meiner Gleichgültigkeit aufbaut.
Ich glaube, das Leid anderer betrifft uns immer – selbst wenn wir es nicht direkt spüren.
Denn wir sind verbunden. Menschlich, geistig, energetisch.
Und wenn ich nichts tue, wer dann?
Stimme 2
Doch was ist „tun“?
Bin ich schon tätig, wenn ich emotional reagiere? Wenn ich spende? Mich empöre?
Oder beginnt Verantwortung dort, wo ich tatsächlich wirken kann – in meiner Reichweite, in meinem Handeln, meinem Dasein?
Ich sehe Nachbarn, Freundinnen, Kinder. Ich kann zuhören, helfen, einen Raum halten.
Ich kann einen Garten pflegen, eine Seele trösten, eine Wahrheit aussprechen, die sich zeigt – hier, nicht auf einem Bildschirm.
Warum sollte ich mir all das Leid der Welt aufbürden, wenn ich im Nahen so viel bewegen kann?
Stimme 1
Weil es bequem ist, nur das zu sehen, was greifbar ist.
Weil sich die Welt nicht ändert, wenn jeder sich in sein eigenes Gärtchen zurückzieht.
Wir brauchen kollektive Wachheit, Aufschrei, Verbundenheit im Angesicht des Unerträglichen.
Stimme 2
Oder brauchen wir Tiefe, Präsenz, Maß?
Ein Herz, das nicht alles aufsaugt, sondern das unterscheidet – was ruft mich, was nicht?
Ich bin kein Auffangbehälter für das Leid der Welt. Ich bin ein begrenzter fühlender Mensch.
Zwischenruf
Vielleicht besteht unsere Aufgabe heute darin, zwei scheinbar gegensätzliche Bewegungen in uns zu halten:
Wachsam sein – und maßvoll.
Berührbar – und nicht empört.
Verbunden – ohne in alledem zu zerschmelzen.
Mitfühlend– doch nicht zwangserregt.
Was uns anlangt, betrifft uns.
Doch nicht alles, was uns gezeigt wird, gehört wirklich zu unserem Auftrag.
Der Maßstab ist nicht das Ertragenkönnen.
Der Maßstab ist: Was macht mich lebendiger? Was lässt mich menschlicher werden?
Was bringt Licht – nicht nur Hitze?
Die Entscheidung: Was mir nicht begegnet, ist nicht mein Auftrag
Die eigentliche Frage: Wie groß darf meine Welt sein – und wo beginnt Verantwortung wirklich?
Es gibt, wie bereits gesagt, ein Volk im Amazonas, das nur dem traut, was das eigene Auge gesehen, der eigene Körper erfahren hat.
Was nicht selbst durchlebt wurde, hat keine Gültigkeit. Dies hat mich beeindruckt.
Wie anders ist unsere Welt beschaffen.
Hier ist alles möglich.
Jeder Krieg, jede Katastrophe, jedes Verbrechen ist einen Klick entfernt.
Und mit jedem neuen Blick auf Leid, das ich nie spüren werde, soll ich fühlen, urteilen, helfen, zahlen, reagieren.
Doch ich frage mich:
Muss meine Welt alle Welten umfassen?
Bin ich weniger Mensch, wenn ich sage: „Das betrifft mich nicht.“?
Ist es unmoralisch, sich nicht einfangen zu lassen von der Überfülle an Elend, die algorithmisch portioniert serviert wird?
Ist es Herzenskälte, wenn ich die Nachrichten wegklicke, weil mich eine Welle aus Dissonanz und Hilflosigkeit erfasst – eine, die nie direkt meine Ufer erreichen wird?
Ist es Flucht, wenn ich mich dem Unfassbaren entziehe, um das Konkrete mit echter Liebe zu erfüllen?
Ich glaube, das Maß ist verloren gegangen.
Wir sind zu Empathie-Konsumenten geworden.
Ständig in einem inneren Ausnahmezustand – zwischen Schuld, Hilflosigkeit und moralischem Dauerstreaming. Ich bin erschöpft.Doch das Gute ist kein Zwangsprogramm!
Verantwortung beginnt da, wo ich handeln kann.
Und oft ist das viel näher, viel leiser, viel weniger dramatisch als das, was mir als „wichtig“ verkauft wird.
Ich glaube nicht, dass das Herz gemacht ist, um alle Schmerzen dieser Welt gleichzeitig zu tragen.
Es ist gemacht, um in Beziehung zu sein - von Angesicht zu Angesicht und dort wo eine Hand die andere zu berühren vermag – lebendig, konkret, präsent, wirksam.
Nicht bloß informiert.
Es ist nicht Gleichgültigkeit, wenn ich meinen Blick selbst lenke.
Es ist eine heilige Grenze.
Eine Erkenntnis:
Ich möchte weder Sendemast noch Empfangseinheit für gebroadcastetes Leid sein. Ich bin ein fühlender Mensch. Und ich diene gerne dem Lebendigen, das mir begegnet.